Vom Bahnhof Bonstetten aus sieht man die orangen Reihenhäuser der Gartensiedlung Bruggenmatt aus dem satten Frühlingsgrün leuchten, wie Früchte in einem kubistischen Stillleben. Wer der schnurgeraden Stallikerstrasse ins Tal folgt, landet nach zehn Minuten Fussweg neben den Gleisen in der katholischen Kirche – dort fand am 16. Mai die 95. Miteigentümerversammlung des besagten Quartiers statt.

«Er wohnt ja nicht einmal hier!» – der Zwischenruf erntet heftiges Kopfnicken. In einem Nebenraum des modernen Gotteshauses liegt an diesem lauen Freitagabend Spannung in der Dorfluft. Rund 90 Eigentümerpartien, durchschnittlich im Pensionsalter, haben sich an vier langen Tischreihen eingefunden, um direkteste Demokratie auszuüben. Auf der Traktandenliste stehen zwei Anträge, die leidenschaftlich diskutiert werden. Die Abstimmung über den Verbleib eines Siedlungs-Bistros polarisiert.

Die Miteigentümerversammlung der Bruggenmatt: pro Wohnpartie darf bei Abstimmungen ein
Stimmzettel bei «dafür» oder «dagegen» aufgestreckt werden.

Das umstrittene Objekt

Der Antragsteller heisst Urs Nigg, ein baldiger Zuzüger. Seit dem 14. März betreibt er jeden Freitag ein Bistro im Gemeinschaftsraum der Bruggenmatt. Nachdem er von einem Verwaltungsmitglied inoffizielles grünes Licht erhalten hatte, schrieb er einen Business-Plan und wurde zum Siedlungsgastronom. Laut dem 63-jährigen Gärtner aus Affoltern am Albis soll sein Non-Profit-Bistro ein offener, generationenübergreifender Treffpunkt sein, ein Ort des Austausches. Trotz vorhandenem Mobiliar besteht er auf einer eigenen Einrichtung – jeden Freitagmorgen stattet er den Raum mit eigenen Möbeln, Dekoration und eigener Kaffeebar aus – ein Prozess, der Stunden dauert und grossen, körperlichen Einsatz erfordert.

Urs Nigg und eine freiwillige Helferin aus der Siedlung

Nigg, an der Miteigentümerversammlung als Gast geladen, ersucht Zustimmung in zwei Fällen: Er will sein Mobiliar stehen lassen dürfen und, da das Bistro rote Zahlen schreibt, keine Miete mehr bezahlen. Für Viele sind die Forderungen ein Affront – während der offenen Debatte wird ein Mikrofon rumgereicht, ein Plädoyer folgt auf das Nächste. Eine Frau meldet sich zu Wort: «Das hier ist keine Bühne für Privatprojekte.» Ein anderer Bewohner befürchtet: «Es beginnt mit einer Kaffeemaschine – und endet mit einer Vereinnahmung des Gemeinschaftsraums.» Auch die Gemeinschaftsraumverwalterin Tamara K. sieht die Hausordnung verletzt: «Wer mietet, bringt alles mit – und räumt wieder auf.» Dass Nigg nun Sonderbedingungen wolle, sei nicht nur ein logistisches Problem, sondern eine Frage der Fairness. Dieser zeigt sich von der Kritik überrascht: «Ich habe niemandem etwas weggenommen – nur etwas hinzugefügt.»

Mit der Tür ins Haus gefallen

Man spürt es, die Bruggenmatt ist eine Siedlung von Tradition, gegründet vor 47 Jahren, mit 150 Partien. Zum Zeitpunkt ihrer Erbauung das grösste, selbstverwaltete Bauprojekt der Schweiz, ist heute geprägt von langjährigen Bekanntschaften, Generationenabfolgen – und klaren Routinen. Vor allem, wenn es um das Herzstück der Siedlung geht. Der Gemeinschaftsraum mit Küche und einladender Fensterfront wird von den Anwohnenden für ihre Freizeitaktivitäten gemietet, für 40 Franken pro Tag. Kochgruppen, Kindergeburtstage, Qi Gong, Kerzenziehen. Begrenzte Zeitfenster, keine Dauerbelegung.

Das Bistro im Herzen der Bruggenmatt. Die «Piazza» ist
der einzige Begegnungsort der Siedlung

Das nun ein Neuzuzüger andere Regeln für sich vorsieht, scheint die Bruggenmättler vor den Kopf zu stossen. Trotzdem äussert sich auch leise Zustimmung im Saal. Besonders nach den Worten einer Frau ganz hinten im Raum: «Viele von uns werden eines Tages froh um einen Ort sein, wo man Gesellschaft hat – nicht heute, aber vielleicht morgen.» Je länger diskutiert wird, desto klarer wird: Es geht weniger ums Bistro, wie es ist, als darum, wie es kam. Ohne Einladung und ohne Absprache. «So gut die Idee auch ist – das hat uns überrollt», sagt eine Bewohnerin. Urs Nigg verteidigt sich ruhig. «Ich habe versucht, ein Angebot zu schaffen. Wer nicht kommt, muss nicht. Aber ich glaube, viele haben sich gefreut.»

Nach einigen Stimmdurchgängen wird ein Kompromiss gefunden: Die Miete bleibt, jedoch darf das Mobiliar das auch – wenn es nach den Öffnungszeiten an den Rand des Raumes verstaut wird. 53 Ja-Stimmen, die knappe Mehrheit, retteten das Bistro in der Zürcher Vorstadtidylle – laut Nigg hätte er, wenn er weiterhin jedes Mal alles auf- und abbauen müsste, sein Projekt beendet.

Eine klassische Problematik

Was in der Bruggenmatt geschieht, zeigt exemplarisch eine bekannte Dynamik: Soziale Projekte, auch wenn sie gut gemeint sind, können in gewachsenen Nachbarschaften Irritation auslösen – nicht wegen ihrer Inhalte, sondern wegen ihres Entstehungswegs. Laut dem Soziologen Mario Störkle zeigt sich dabei immer wieder, wie empfindlich Gemeinschaft auf Veränderungen reagiert, vor allem wenn sie aufgezwungen wird. «Begegnung ist ein Prozess – kein Produkt», betont er. Wer bestehende Räume bespielen will, müsse zuerst deren soziale Struktur verstehen. Nicht die Initiative sei das Problem, sondern das Auslassen gemeinsamer Aushandlung.

Auch Mara Klöti, Fachperson für Quartierentwicklung in Zürich, überrascht diese Spannungen nicht: «Wenn eine Person alleine etwas aufzieht, ohne die Leute mitzunehmen, fehlt die soziale Legitimation.» Ein Projekt könne noch so sinnvoll erscheinen – wenn es nicht auf Beteiligung setze, verliere es an Rückhalt.

Dabei sind offene, niederschwellige Treffpunkte für viele Quartiere essenziell: Sie ermöglichen Begegnung und schaffen soziale Nähe. Die Praktik hinter dem Erfüllen dieses gesellschaftlichen Bedürfnisses ist die soziokulturelle Animation. Sie versucht, durch moderierte Prozesse, durch Aktivierung bestehender Ressourcen und viel Dialog, Projekte wie das Bistro Bruggenmatt zu unterstützen – ohne vorgefertigte Lösungen aufzudrängen. Jedoch entfalten solche Räume nur dann Wirkung, wenn sie von denen mitgedacht und mitgetragen werden, die sie nutzen sollen. Partizipation ist keine Formalität – sie ist das Fundament.