Offene Türen mit sozial verträglichen Meinungen einzurennen ist mittlerweile nicht mehr nur salonfähig, sondern gehört zum guten Ton. Sitzt man nicht heftig nickend an der Tafel, während Putins Charakter in die Mangel genommen wird, läuft man Gefahr, schlechte Manieren zu zeigen oder im Extremfall als Sympathisant des Bösen an den Pranger gestellt zu werden. Dabei ist die «falsche Meinung» noch entschuldbarer als gar keine zu haben. Uninformiert zu sein ist einer der vielen Wege zum sozialen Selbstmord, in einer Gesellschaft, in der Moral grossgeschrieben wird und deren selbst ernannte Apostel ihre Mission immer ernster nehmen. Phänomene wie die Cancel-Culture erinnern täglich daran, dass wir in unserer Verschwendungsgesellschaft neben Geld auch jede Menge Emotionen im Namen anderer zu verpulvern haben.

Die Sache mit der Moral

Sich mit den Themen unserer Zeit auseinanderzusetzen scheint obligatorisch geworden zu sein – nicht zuletzt, weil wir als Nachkommen der europäischen Kolonialisten einiges aufzuarbeiten haben. Alexander Grau, ein deutscher Journalist und Philosoph, beschreibt diesen Drang, Verantwortung zu übernehmen, als Hypermoral. Ein Gedankengut, welches so weit geht, dass es den Einzelnen für globale Probleme verantwortlich macht – von Umweltkrisen bis hin zu sozialer Ungerechtigkeit. «Aufgeklärt zu sein ist nicht nur ein Privileg, sondern eine Pflicht», hört man es aus linken Kreisen munkeln, oder eher schreien. Allerdings gilt nicht, grundsätzlich informiert zu sein, sondern den aktuellsten Weltschmerz zu kennen und sich als gut situierte Person der westlichen Welt gefälligst darum zu scheren. Schliesslich müssen wir das latente Schuldgefühl, das wir empfinden, wenn uns aus dem UNICEF-Plakat traurige, ungebildete Kinderaugen vom anderen Ende der Welt entgegenblicken, irgendwie kompensieren. Für den bitteren Beigeschmack beim vermeintlichen Gewinnen der Lebenslotterie ist die Beschäftigung mit den sogenannten «Ärmeren als wir» wie ein Löffel Bio-Honig. Doch beim Informieren fängt es erst an, weiter muss man sich solidarisieren und schlussendlich engagieren. Dann friert man Anfang 2022 mit einem Kerzchen in der Hand vor dem Fraumünster und lauscht ukrainischen Sängerinnen, die Schlimmes aus der Heimat zu berichten haben. Daran ist per se nichts Verwerfliches, aber etwas Heuchlerisches. Denn während wir uns regelrecht dabei überwerfen, bahnbrechende Meinungen wie «Der Mord an Nawalny war ein Verrat an die Pressefreiheit» oder «Die USA sollten sich hüten, einen Misogynisten ans Chef-Pult zu stellen» ungefragt preiszugeben, bleibt es in den Rängen, wenn es um Missstände geht, bei denen wir effektiv eine Mitverantwortung tragen, verdächtig still. Ist es nicht interessant, dass wir uns endlos über die Stellung der Frau in der iranischen Gesellschaft echauffieren können und nebenbei beinahe schamlos ein iPhone besitzen, bei dessen Produktion potenziell ein Kind in einer Kobaltmine verendet ist? Oder dass der Frauenstreik weit besser besucht ist als der Klimastreik, obwohl letzterer doppelt so viele Hälften der Bevölkerung betrifft? Anscheinend ist Moralapostel nur ein Teilzeitjob, bei dem man sich die Stunden selbst eintragen kann.

Die Sache mit der Ausrede

Geht es darum, dass man das User-Interface von Apple schlichtweg schöner findet oder auch mal übers Wochenende zum Shoppen nach New York fliegen will, fällt es nicht schwer, sich mit der Machtlos-weil-kleiner-Konsument-gegenüber-der-grossen-kapitalistischen-Welt-Ausrede aus der Verantwortung zu ziehen. Peter Sloterdijk, ein weiterer deutscher, zeitgenössischer Philosoph, nennt dieses Phänomen das «Falsche aufgeklärte Bewusstsein». Er beschreibt uns als Zyniker, die Einsicht in die Unvollkommenheit der Welt und die Konsequenzen des eigenen Handelns besitzen, sich dadurch jedoch ohnmächtig fühlen und bezweifeln, dass sie etwas im Grossen und Ganzen verändern können. In einer aufgeklärten Gesellschaft zu wirken, die nachweislich und in allen möglichen Facetten schädlich ist, macht daher nicht nur zynisch, sondern nach klassischer Definition unmoralisch. Es bleibt uns nur zu evaluieren, wo wir die Kapazität haben, das eigene Verhalten anzupassen – und hier ist der Knackpunkt: Wir spinnen uns gedanklich ein sich selbst verarschendes Triage-System zusammen, in welchem wir Probleme anderer, wie Krieg oder Hunger, über die vermeintlich kleinen Fauxpas stellen, die wir beispielsweise in unserem Konsumverhalten begehen. In einer Realität, in der kleine Akte der Weltverbesserung wie Tropfen auf dem heissen Stein wirken, liegt die Versuchung nahe, sich einer anderen Art des Aktivismus zu verschreiben. Vielleicht ist es deshalb so einfach, lautstark gegen exotische Ungerechtigkeiten zu protestieren. Man relativiert die eigene Fehlbarkeit. Und spendet schlussendlich ans Rote Kreuz, anstatt ein Fairphone zu kaufen. Diese versuchte Neutralisierung des Karmakontos ist ein Prozess, der von der Medienlandschaft tatkräftig befeuert wird. Denn wem oder was wir unsere Aufmerksamkeit und Solidarität schenken, wird von ihr diktiert.

Die Sache mit der Verantwortung

Selektive Empathie ist auf den ersten Blick kritisch zu betrachten. Die damit einhergehende Scheinheiligkeit legt die Weigerung offen, sich mit realer Eigenverantwortung auseinanderzusetzen. Trotzdem gilt es, Verständnis aufzubringen für den Teilzeitmoralapostel, dessen Aussicht stark vom hypermoralischen Zeitgeist und einem sensationslustigen Medienzirkus geprägt ist. Selektive Berichterstattung führt zu selektiver Moral, und sich im Strom der kollektiven Aufmerksamkeit treiben zu lassen, ist zutiefst menschlich. Das Problem liegt letztendlich nicht im Mitgefühl für Geflüchtete aus der Ukraine, sondern im bewussten Wegsehen, wenn man sich in der Täterrolle wiederfindet. In die Reflexion zu gehen und unbequeme Meinungen zu äussern – also Meinungen bezüglich Unrecht, welches wir ändern könnten, indem wir etwas an uns ändern – sollte genauso eifrig am Salontisch ausgeübt werden, wie das Friedenswünscheschicken Richtung Osten. Sobald es gelingt, sich aus der Sloterdijk›schen Schockstarre zu befreien und Verantwortung zu übernehmen, wo es sich gebührt, kann man sich ohne schlechtes Gewissen Putins Gräueltaten während einer ökofreundlichen Zugfahrt in ein Shopping-Weekend nach Paris widmen.